„Zur Diagnose des Abhängigkeitssyndroms müssen nach der ICD-10 mindestens drei der folgenden Kriterien während des letzten Jahres gemeinsam erfüllt gewesen sein:
- starkes, oft unüberwindbares Verlangen, die Substanz einzunehmen
- Schwierigkeiten, die Einnahme zu kontrollieren (was den Beginn, die Beendigung und die Menge des Konsums betrifft)
- körperliche Entzugssymptome
- Benötigen immer größerer Mengen, damit die gewünschte Wirkung eintritt
- fortschreitende Vernachlässigung anderer Verpflichtungen, Aktivitäten, Vergnügen oder Interessen (das Verlangen nach der Droge wird zum Lebensmittelpunkt)
- fortdauernder Gebrauch der Substanz(en) wider besseres Wissen und trotz eintretender schädlicher Folgen.“
Auch in der Klinik, wo diese gestellt wurde, gab es hierzu geteilte Meinungen. Einerseits haben die Befürworter der Diagnose behauptet, ich sei in dieser Hinsicht ein völlig eindeutiger Fall. Andererseits hat aber der Suchttherapeut(!) der mit mir die eigentliche Diagnostik gemacht hat, nicht ausreichend Gründe gesehen, um eine Suchtdiagnose zu stellen.
Und genauso geht es mir selbst eigentlich auch:
Würden die ersten beiden Kriterien ausreichen, um eine Sucht zu begründen, könnte ich wohl schwer widersprechen, denn das Verlangen war immer wieder da und je beschissener es mir ging, umso stärker wurde es. Natürlich kam das in erster Linie daher, dass meine sonstigen Probleme zeitweise so unerträglich waren, dass mir das gesamte Leben sinnlos erschien und ich mir sinngemäß dachte „Selbstmord wäre angemessen, aber bevor ich mich umbringe, kann ich mir auch erstmal noch für ein paar Wochen die Birne wegkiffen und vielleicht sieht’s danach ja doch wieder besser aus…“.
Allerdings steht da ja auch nirgends, dass ein guter Grund ein Ausschlusskriterium für Punkt 1 ist.
Auch Schwierigkeiten, die Einnahme zu kontrollieren, kann ich nicht wegreden:
Wenn ich Gras daheim hatte, habe ich es auch geraucht und zwar mehr oder weniger täglich. Versuche, einen gewissen Vorrat daheim zu behalten, aber trotzdem nur selten zu kiffen, sind eigentlich immer fehlgeschlagen.
Punkt 2 ist somit auch erfüllt.
So viel zu den klar erfüllten Kriterien. Der Rest hingegen ist bestenfalls uneindeutig:
Punkt 3, die körperlichen Entzugserscheinungen, lässt sich schonmal von vornherein ausschließen, da Cannabis bekanntermaßen nicht körperlich abhängig macht.
Punkt 4 hingegen trifft meiner Meinung auch nicht zu, denn auch wenn ich im letzten Jahr in den Phasen, in denen ich gekifft habe, in dieser Hinsicht gewisse Schwankungen hatte, lag das in erster Linie daran, dass ich manchmal mehr und manchmal weniger weggedröhnt sein wollte.
In der Klinik hat man diesen Punkt dann einfach damit begründet, dass es doch extreme Steigerungen ab meinem ersten Joint (vor 14 Jahren!) gegeben hat. Das ist natürlich auch so nicht falsch, aber in den Diagnosekriterien steht nunmal explizit, dass es nur um das letzte Jahr geht.
Auch mit Punkt 5 ist es so eine Sache:
„Vernachlässigung anderer [in meinem Fall: fast jeder] Verpflichtungen, Aktivitäten, Vergnügen oder Interessen“ hat mir mir definitiv stattgefunden, allerdings nicht fortschreitend und ziemlich unabhängig davon, ob ich gerade gekifft habe oder nicht. Teilweise habe ich gezielt gekifft, weil ich dann erfolgreicher zumindest ein Minimum meiner Verpflichtungen erledigen konnte.
Meine Aktivitäten, Vergnügen oder Interessen bestanden in diesem Zeitraum sowieso fast ausschließlich daraus, mich mit Hilfe von Fernsehen, Computer(spielen) und/oder Büchern so viel und effektiv wie möglich aus der Realität zu flüchten. Auch bekifft habe ich das sehr erfolgreich geschafft.
Genau genommen habe ich in der letzten Konsumphase sogar mehr Kontakt zur Außenwelt gehabt (vermutlich bestand da allerdings kein Zusammenhang) und (auch wenn das für die Diagnostik nicht relevant ist) in der heftigsten Phase meines Cannabiskonsums, also vor ca 5 Jahren, hat mir das Kiffen sogar geholfen, etwas Struktur in mein Leben zu bringen, denn damals hatte ich mir immer nur Tagesrationen gekauft und war insofern gezwungen, einmal täglich das Haus zu verlassen, irgendwohin zu gehen, wo ich Gras kaufen konnte und nebenbei hatte ich dadurch sogar etwas mehr sozialen Kontakt, denn ich habe damals oft die Gelegenheit genutzt und noch ein bisschen beim jeweiligen Dealer herumgehangen und mich unterhalten. Klar, das ist nicht gerade eine besonders gesunde Art und Weise, sein Leben zu gestalten, aber im Vergleich dazu, nur depressiv daheim rumzuhängen, war es gar nicht so schlecht…
Kurz gesagt: Ich kann mich nicht erinnern, irgendwann mal etwas durch das Kiffen vernachlässigt zu haben, was nicht sowieso (auch ohne Gras) schon nicht funktioniert hatte.
Punkt 6 ist dann letztendlich Auslegungssache:
Natürlich war mir bewusst, dass Kiffen nicht die Lösung für meine Probleme darstellen kann und auch, dass es in mancher Hinsicht eine schädliche Wirkung auf mich hat.
Allerdings habe ich eben auch keine bessere Alternative gesehen und fand es somit als Übergangslösung durchaus akzeptabel. Es war ja nicht so, als hätte ich bloß gekifft und dabei völlig ignoriert, dass ich gewisse Dinge in den Griff kriegen muss, um mein Leben auch nüchtern zu ertragen.
Kiffen hat mir in gewisser Weise über besonders schlimme Phasen hinweg geholfen und dazwischen habe ich fleißig weiter an mir gearbeitet. Genau genommen habe ich das auch in der Zeit, als ich bekifft war getan und ich kann nichtmal mit Sicherheit sagen, dass es wirklich weniger effektiv war, denn auch wenn der Lerneffekt mit klarem Kopf natürlich größer ist, habe ich es durch die Droge geschafft, mich Problemen zu stellen, die mir ansonsten einfach zu viel Angst gemacht hätten.
Was die schädlichen Folgen angeht: Das einzige, was mir bewusst war, war dass Kiffen Geld gekostet hat, dass mir dann an anderer Stelle fehlte. Andererseits habe ich es aber bekifft auch besser hingekriegt, mich allgemein besser zu fühlen und das hat wiederrum die regelmäßigen Situationen verhindert, in denen ich sonst das Geld für Essensbestellungen ausgegeben habe, weil es mir mal wieder viel zu beschissen ging, um mir selbst etwas zu essen zu machen. Depressiv sein ist halt auch nicht billig, denn wenn es mir erstmal so richtig dreckig ging, habe ich bereitwillig mein Geld für alles ausgegeben, das meine Qualen etwas gelindert hat und in dieser Hinsicht war Gras nie die einzige Alternative, sondern aus meiner Sicht sogar die vernünftigste.
In der Klinik wurde mir hingegen erklärt, dass allein die Tatsache, dass ich meine Antidepressiva mit Cannabis kombiniert habe und somit deren Wirkung abgeschwächt, schon Grund genug, um diesen Punkt als erfüllt anzusehen. Allerdings war mir schlichtweg nicht bekannt, dass diese Kombination derartige Auswirkungen haben kann! Ich dachte immer bloß daran, dass zusätzliches Kiffen in Bezug auf die Nebenwirkungen der Medikamente problematisch sein könnte und insofern hielt ich es für ausreichend, mich vorher im Internet über mögliche Wechselwirkungen zu informieren und mich beim Konsum erstmal ganz vorsichtig heranzutasten.
Letztendlich bedeutet das also, dass ich Punkt 6 erfüllen soll, weil ich in meiner Kosten/Nutzen-Rechnung einen wichtigen Punkt ignoriert habe, der mir schlichtweg unbekannt war, oder weil ich für mich gewisse Nachteile in Kauf genommen habe, solange aus meiner Sicht insgesamt die Vorteile überwogen oder die Bilanz zumindest ausgeglichen war.
Aus meiner Sicht erfüllt das nicht den Wortlaut des Kriteriums.
Mein persönliches Fazit lautet insofern:
Mein Cannabiskonsum war definitiv nicht gut für mich und ich sehe inzwischen bessere Alternativen, um mit meinen Problemen zurecht zu kommen.
Das ich nicht mehr kiffen darf, will und werde, steht für mich inzwischen außer Frage.
Dass ich eine Suchterkrankung im Sinne des ICD10 habe, halte ich hingegen für äußerst fragwürdig und den Sinn einer ambulanten Suchtentwöhnung sehe ich genauso wenig wie den von regelmäßigen Besuchen ein Sucht-Selbsthilfegruppe. (Eine Selbsthilfegruppe für psychisch kranke Menschen wäre hingegen wahrscheinlich wirklich nicht die schlechteste Idee, aber bis jetzt ist es mir noch nicht gelungen, eine lokale zu finden.)
Letztendlich wäre es mir wohl völlig egal, ob in meiner Diagnoseliste ein Punkt mehr oder weniger steht, aber solange dieser spezielle Punkt es mir erschwert, Hilfe bei meinen anderen (aus meiner Sicht: den wirklich wichtigen) Problemen zu kriegen, kotzt es mich doch ziemlich an, dass ich jetzt offiziell süchtig bin!